Und ob! Oder wollt Ihr auf dem Fest eures Lebens ständig beim Feiern gestört werden?
Angenommen, eine Fee serviert euch einen Gourmeteisbecher mit Trüffel, Safran und Blattgold. Ihr schnappt euch den Löffel, wollt gerade loslegen – da tippt euch jemand auf die Schulter. Und sagt, dass er jetzt nach Hause muss. Weil dem Babysitter schlecht wurde. Und die Schwiegermutter morgen in aller Früh zu Besuch kommt. Du drückst dein Bedauern aus, verabschiedest dich und wendest dich wieder dem Eisbecher zu. Doch bevor du in die knackige Schokoschicht einstechen kannst, tippt dich wieder jemand an. Und wieder. So lange, bis das Eis ein zuckriger Brei ist.
Was ich damit sagen will: Egal, was Ihr am liebsten tut – Schmusen oder Schlemmen, Häkeln oder Heiraten – wenn jemand euch ständig daran hindern würde, nervt das unheimlich. Dieses Gefühl solltet Ihr verinnerlichen, wenn Ihr euch nächstes Mal auf einem großen Fest oder einer Hochzeit wortreich vom Gastgeber verabschieden wollt.
Ich persönlich bin ja ein Fan des sogenannten „Polnischen Abgangs“. Als Expertin für Luxusevents weiß ich, was es bedeutet, ein Fest dieser Größenordnung vorzubereiten und wie sehr man sich darauf freut, den Tag zu genießen, wenn es soweit ist. Für mich ist das diskrete Ausklinken keineswegs ein Zeichen von Unhöflichkeit, sondern von großem Respekt gegenüber den Gastgebern. Ich lasse sie ihr Fest genießen und störe sie nicht, damit alles im Fluss bleibt.
Daher habe ich am polnischen Abgang nichts auszusetzen – bis auf die Wortwahl vielleicht, die dieser hohen Kunst nicht gerecht wird. Sie steht für den Akt des Sichdavonstehlens und entstand in der Zeit nach dem Mauerfall, als man noch über Polenwitze lachte. In Polen und Frankreich sagen sie dazu übrigens „Sich auf Englisch verabschieden“, während die Engländer wiederum von einem „Irish Goodbye“ sprechen oder von „A french leave“. Die Italiener gönnen sich im Gegenzug einen „Abgang auf Französisch“ („Andarsene alla francese“). Immerhin pflegten die Franzosen bereits Mitte des 18. Jahrhunderts die Tradition, ein Fest zu verlassen, ohne sich beim Hausherrn zu verabschieden.
Egal wo, in Europa scheinen alle das lustvolle Davonschleichen zu praktizieren, nur wir nicht. Weshalb es weder einen „Deutschen Abgang“ noch einen „Abgang auf Deutsch“ gibt, nicht einmal Google hat von so einer Abschiedsmethode gehört. Kein Wunder, hierzulande wird der geordnete Rückzug häufig noch als unhöflich missverstanden. Dabei finde ich es weitaus unhöflicher, die Gastgeber mit großem Tamtam und Winkewinke zu behelligen.
Dabei könnte es so viel smarter ablaufen. Zum Beispiel so: Der Saal kocht, der Schampus fließt, die Band gibt alles. Fred und Hanna genießen das rauschende Fest, sie amüsieren sich bestens. Für sie der perfekte Zeitpunkt, aufzubrechen – man soll ja gehen, wenn’s am schönsten ist. Gerade noch haben die beiden an der Bar haben mit anderen Gästen auf die frisch Vermählten angestoßen. Im nächsten Moment sind sie verschwunden. Niemand hat ihren Aufbruch registriert, am allerwenigsten Braut und Bräutigam. Während die gerade zu ihrem Kennenlern-Song abrocken, sitzen die beiden bereits im Taxi auf dem Weg nach Hause – ohne Verabschiedung. Schlechte Kinderstube? Keineswegs. Alles richtig gemacht!
Stellt euch nur mal vor, was es bei 100 Gästen für die Gastgeber bedeutet, wenn jede einzelne Person ihnen vor dem Verlassen der Feier auf die Schulter tippt und sie beim Tanzen, Reden oder Kuchenanschneiden unterbricht. Sie in ein Gespräch verwickelt, angereichert mit Erklärungen („Unser Babysitter wartet“), Entschuldigungen („So sorry, hat nichts mit der Party zu tun!“), Beteuerungen („Komisch, sonst vertrage ich eine Flasche Champagner problemlos“) und Versprechungen („Nächstes Mal bleiben wir länger“!).
Eine Verabschiedung reißt das Brautpaar, das im Zentrum des Geschehens steht, ständig aus irgendetwas heraus. Da können sich die beiden gleich für den restlichen Abend an die Tür stellen und jeden persönlich verabschieden, der den Saal verlässt – während die anderen ohne sie weiterfeiern.
Die Erkenntnis basiert auf einer simplen Rechnung. Angenommen, jedes Abschiedsgespräch nähme lediglich 90 Sekunden in Anspruch (nicht einkalkuliert sind Überredungsversuche, Smalltalk, ein letzter Absacker etc.) – das macht bei 100 Gästen sage und schreibe zweieinhalb Stunden, die das Brautpaar allein mit Verabschiedungsgeplänkel beschäftigt wäre. Und vergesst nicht: Zuvor steht man erst mal mit Mantel in der Armbeuge da und wartet, bis das Brautpaar frei ist. Damit erregt man nicht nur Aufsehen, sondern erzeugt am Ende sogar eine Dynamik des allgemeinen Aufbruchs. Mal ehrlich: Das kann niemand wollen. Am allerwenigsten das Brautpaar.
Hilfreich: Hinweis vom Gastgeber
Gastgebern empfehle ich daher, rechtzeitig darauf hinzuweisen, wie sie zum polnischen Abgang stehen, um Zweifel bei zögerlichen Gästen zu beseitigen. Doch einen Beileger in die Einladung zu stecken, könnte plump wirken. Auch kann man schlecht Anstecker verteilen, auf denen steht „Sagt zum Abschied bloß nicht Servus!“ Gegen eine geschmackvoll gestaltete, charmante Grafik in einem hochwertigen Rahmen ist jedoch nichts einzuwenden. Diese lassen sich z.B. wirkungsvoll in den Waschräumen platzieren. Wie wäre es etwa mit dem Hinweis: „Um uns den schmerzlichen Abschied von jedem einzelnen zu erleichtern, ist es heute Abend allen Gästen ausdrücklich erlaubt, sich davonzustehlen“).
Damit der Plan aufgeht, sollte man als Gast die hohe Kunst des dezenten Verschwindens beherrschen. Das funktioniert folgendermaßen:
- Diskretion wahren – wenn es sich irgendwie vermeiden lässt, kündige ich niemals an, dass ich demnächst gehen werde. Außer natürlich meiner Begleitung (am besten zuvor einen Zeitpunkt verabreden und per Augenkontakt kommunizieren).
- Richtigen Zeitpunkt wählen – in der Regel löse ich mich unter einem Vorwand (Toilette, Telefon, Tequila) von der Gruppe oder warte eine passende Situation ab. Perfekt sind Showeinlagen, die die Aufmerksamkeit der anderen auf sich ziehen.
- Entschlossenheit zeigen – sobald ich von der Toilette / Bar zurückkomme oder die anderen abgeschüttelt habe, begebe ich mich ohne Umwege zur Garderobe und spiele Aschenputtel: Ich verlasse das Märchenschloss ohne zurückzuschauen.
- Sich bedanken – ein absolutes Muss, und zwar direkt im Anschluss daran. Ich bereite dazu immer eine besonders schöne, handgeschriebene Karte vor mit einer persönlichen Nachricht, eventuell ergänzt mit Blumen oder einer kleinen Aufmerksamkeit.
Es versteht sich übrigens von selbst, dass der grußlose Abschied sich nicht für private Essenseinladungen oder Veranstaltungen im kleinen Kreise eignet. Wer sich von Tante Hedwigs 80. Geburtstag schleicht, darf kaum auf Verständnis hoffen. Mit ein wenig Fingerspitzengefühl hinterlässt der grußlose Abgang jedoch weder einen bitteren Nachgeschmack noch einen schlechten Eindruck, sondern im besten Fall: gar keinen Eindruck. Weil die Party ohne Unterbrechung weitergeht. Wenn ich es mir genau überlege: Womöglich spricht nicht einmal etwas dagegen, wenn sich das Brautpaar selbst heimlich davonstiehlt. Solange die Gäste ungestört weiterfeiern dürfen, der Schampus fließt und die Band weiterspielt.
Bis bald,
eure Nadine
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